11.2.09

Ich hoffe, ich störe nicht

Im Herbst des letzten Jahres rief mich der Fotograf F. an. 
„Aber nein, sie stören mich nicht, was gibt’s?“ Der Name F. war mir bekannt. 
Der Fotograf F. schlug mir an einem späten Nachmittag des letzten Jahres vor, Fotos zu machen. 
„Von mir?“, fragte ich „ja, von ihnen“. 
„Aha“ und warum?“ fragte ich.
„Weil ich auf der Suche bin nach einem Gespräch“, sagte er. 
„Einem Gespräch“? „Ja“, antwortete er etwas zögernd, um dann umso entschiedener fortzufahren: „Ein Gespräch über das Leben, über das Scheitern und Hoffen, über Glück und Unglück, vielleicht auch ein Selbstgespräch“. 
„Ja, dann lassen sie uns doch reden, schlug ich vor, reden ist mir lieb, reden ist mir lieber, es gibt genug Fotos von mir“. „Nein“ sagte er mit einer Bestimmtheit, die aufhorchen ließ und durch das Telefon hindurch bemerkte ich, wie seine ohnehin beharrliche Art zu sprechen seiner Stimme zunehmende Festigkeit verlieh, er musste an ein zentrales Thema, vielleicht an sein zentrales Thema geraten sein, „nein“, sagte er, „ich möchte gerne mit ihnen reden, aber ohne Worte.“ „Aha“. Ich sagte „Aha“ um etwas zu sagen, nur um etwas zu sagen, so wie man manchmal eben nur etwas sagt, um damit eigentlich gar nichts zu sagen, aber um den sicheren Anschein zu erwecken man wäre bei der Sache. „Aha, ohne Worte...“. 

„Ja, ich möchte mit ihnen reden“ fuhr er fort, „indem ich sie fotografiere. Sie sollen mir dabei von sich erzählen“!„Ganz ohne Worte“ fragte ich? „Ja“. „Aber ich rede sehr gerne“ erwiderte ich etwas zu forsch „und meistens ohne Punkt und Komma“. „Ich weiß...“. „Wie bitte?“, fragte ich. „Ich sagte, ich weiß“ sagte er, der Fotograf, der F. hieß und der aus Dresden kam, „Aha“ sagte ich.
Wir schwiegen uns eine kurze Zeit an. Dann holte ich aus, um Land zu gewinnen. „Wissen sie, ich lasse mich nicht so gerne fotografieren, denn man wird zu sehr von der Hure der Gefallsucht, von der Hure der Lüge verführt, etwas zu sein, dass man gar nicht ist, von dem man sich aber wünscht, dass man es wäre, wenn man es könnte. Ja, wenn es um eine Rolle ginge, um ein Rolle, ja, ... aber von mir erzählen, so ganz ohne Rolle, dass kann ich nicht. Ich bin ein Schauspieler. Ich spiele. Ich spiele jeden Tag. Missverstehen sie mich bitte nicht, spielen heißt Suchen, ewiges Suchen, manchmal verzweifeltes Suchen nach sich, nach der Wahrheit, nach was weiß ich. Mein Gott, wer bin ich und wenn ja, wie viele? Der Schauspieler ist ein Selbst, das aber nur blüht, wenn es sich für ein Anderes Selbst verwenden darf. Darauf hofft er, danach sucht er. Gefallsucht paart sich mit genetischer Grundlagenforschung. Das ist das Verhängnis. Er ist eine Hure. Er ist die Hure der Seele. Denn mit der Maske eines Fremden ist das Eigene leichter zu verstehen. Für den Zuschauer und für den Spieler auch. Sie müssen wissen, jeder Schauspieler, der sich fotografieren lässt, lügt.Und er lügt doppelt, wenn er sich so zeigen will, wie er wirklich ist. Und er lügt dreifach, wenn er dafür bezahlt wird. Er lügt schamlos und ohne Vorwarnung. Ihm fehlt die Naivität, sie ist ihm abhanden gekommen wie der Turnbeutel in der 2.Klasse. Hingegen hat der flüchtige und undurchschaubare Moment des Theaters, des Spielens auf der Bühne, für mich nie seinen Zauber verloren. Was ich auch denke, was ich auch tue, ich weiß nie, welchen Augenblick der Zuschauer bei sich hält, sich bewahrt und in seinen Erinnerungen mit nach Hause nimmt. Das ist der Zauber der Undurchsichtigkeit. Ich ahne den Moment, ich strebe ihn an, ich visualisiere meine Gedanken, ich stelle sie glasklar in den Raum, aber ich habe keinen Einfluss auf die Linse des Betrachters und auf seine Seele.“ 
„Du sprichst so“, antwortete er, der Fotograf, der sich F. nennt unbeeindruckt, „als würde eine Fotografie nicht leben, aber ein gutes Foto kann sprechen, kann Monologe sprechen und jeden Tag in einer anderen Sprache. Und jeden Tag genieße ich die Unfertigkeit eines Fotos“. Nun hörte ich durchs Telefon, wie F., der mich geduzt hatte, in Gedanken den Auslöser drückte, um mir den Gnadenstoß zu geben, „denn das Leben und somit auch die Kunst bestehen aus Unfertigkeiten, oder?, aus einer faszinierenden Sammlung von lauter Unfertigkeiten, aus einer großen Komposition aller täglichen Unzulänglichkeiten. Die Natur kennt keine rechten Winkel, keine geraden Linien, alles hat seine Form. Kann da überhaupt etwas falsch oder richtig sein? Es ist wie es ist. Alles was geschieht ist wahr, weil es so ist.
“Einen Augenblick lang war jetzt Stille. Das war zuviel Kulturtheorie auf einmal, aber ich hatte ja damit angefangen und das Problem war nun, das Thema zu wechseln, ohne dabei den Eindruck zu erwecken vor Irgendwas und Jemanden zu kneifen. Ich änderte meinen Tonfall. Ungeduld machte sich bei mir breit.„Ich habe noch ein anderes Problem“ sprach ich etwas stockend, aber kunstvoll gemeißelt, so als würde ich im fünften Akt des Dramas das Finale einleiten, wissend um die Wirkung der Langsamkeit, wissend um die Merkwürdigkeit des qualvollen Dehnens von Vokalen, welche sich von den Konsonanten lustvoll verabschieden um sie noch begieriger zu empfangen. „Wissen sie“ meißelte ich, während in zunehmendem Maße die Sprache aus mir heraus floss wie ein Rinnsaal, das Befreiung suchte in der Muschel meines Telefonapparates, „wissen sie,... jedes Foto ist wie ... ein kleiner Tod, wie ein Abschied, jedes Foto zeigt wie ... die Zeit vergeht, mein Gehirn hat mich in anderer Erinnerung. Das weiß ich, weil ich’s weiß. Kübelschwere Verdrängung ist täglich notwendig, um sich einzubilden, dass das Passbild auf meinem Personalausweis noch der Realität entspräche. Es ist zehn Jahre alt. Zehn Jahre..., wo ist die Zeit hin? Selbst mein Ausweis ist veraltet. Es tröstet mich, wenn der Zollbeamte nickt und mich passieren lässt, aber ich durchschaue ihn. Er hat Mitleid, denn auch er hat einen Personalausweis und auch er kennt sich nur noch flüchtig. Jeden Tag sehe ich ein Blatt vom Himmel fallen, ein weiteres und ein weiteres.... 
Ich bin nachdenklich geworden, als ich dieser Tage einige Fotos in den Händen hielt. F. hatte sie mir zukommen lassen. Er hatte lange nichts von sich hören lassen, nachdem wir uns für tausend Bilder trafen, tausend und ein Bild, in zwei Stunden, im dritten Hinterhof seines Ateliers, unterm Dach und ich war drauf und dran das Ganze zu vergessen, wohl wissend, dass sein erster Satz: „Ich hoffe, ich störe nicht“, im Herbst des letzten Jahres bei mir eine kleine Lawine ins Rollen brachte. Ja, er hatte Recht, man kann sich auch mit Bildern unterhalten. 
Nein, ich lasse mich nicht gerne festhalten, bis heute nicht, aber ...diese Bilder sind ...irgendwie anders, eben ... als würden Blätter vom Himmel fallen...

©AM2009