
Ich saß etwas unbeteiligt und von mir selbst gelangweilt zu Hause und suchte ziellos in meinen Schallplatten. Etwas sollte geschehen, um diesen Tag aus seiner Belanglosigkeit zu befreien.Vielleicht würde sich ein Lied finden, ein Atem vergangener Zeit.Vielleicht ließe ich mich fallen in Bilder gelebter Tage - süß oder bitter, aber immer Vertrauen erweckend.Mit Melodien ist es wie mit Gerüchen, sie spulen die Zeit zurück. Manchmal weiß ich sogar noch, was ich an diesem oder jenem Tag anhatte.Ich fühle jenes Gemisch aus Bier und Cola unter meinen Fußsohlen, das die Kulturhäuser meiner Stadt wie ein Teppich überzog.
Ich suchte drei Platten aus dem Regal:1. "Deep Purple" - eine Ausgabe von Amiga, mit einem Cover dessen Gestaltung, made in GDR, ein Wunder an Geschmacklosigkeit darstellt.2. "Was für ein Meisterwerk ist der Mensch" - der legendäre Wolfgang Heinz spricht darauf mit rollendem rrr Weltliteratur und Dramatik.3. "Otto Reutter" - eine 1971 herausgegebenen Platte, auch von Amiga. Eine Platte, die mir bis dato immer ein Rätsel war und von der ich nun erwartete etwas Neues zu erfahren.

Immer wieder höre ich die Platte. Am nächsten Tag, in der nächsten Woche. Was ist das? Man kann durch Reutters Vortrag über sich und die Welt so herrlich lachen, und doch denkt man sich immer in einem knisternden Schwarzweißfilm.Müsste man es anders machen..., wenn man es machen würde...

Ich begann eifrig Reutter Texte zu besorgen. Keine leichte Aufgabe, denn eine Gesamtausgabe existiert nicht. Auch die Noten in ihrem ganzen Umfang zu aufzutreiben, erwies sich als schwer.Den Winter hindurch verteile ich die Texte nachts auf dem Fußboden meiner Küche. Ich schob die Lieder hin und her, schnitt und klebte Strophen aufs Papier.Welche Couplets sind wichtig, welche unwichtig?Ich besaß bald Unmengen von Tonaufnahmen, die von Otto Reutter selbst erschienen sind und mir war der Kopf von seiner Musik verklebt, wie unsere Nase sich überfordert fühlt, sucht sie zulange nach dem passenden Parfüm.
Im Frühling des Jahres 2001 fragte ich Sebastian Reuter, Chef der Tonabteilung des Schauspielhauses in Dresden, ob er mich bei meinem Abend auf dem Flügel begleiten würde. War ich bisher allein mit meinem Traum, wollte ich nun umso mehr meine Gedanken teilen und auch diskutieren. Ich wusste von Sebastians Talent, Bühnenmusiken zu schreiben, und hoffte auf einen Menschen zu treffen, der sich mit seinem Klavierspiel im wahrsten Sinne des Wortes auch als Spieler begreift."Mich interessiert nicht der Vortragskünstler neben seinem Pianisten. Wer ins Theater geht, möchte sich wiedererkennen, der möchte auf Darsteller treffen, welche ihn an sich und seine Zeit erinnern. Dazu gehört all unser Weinen und Lachen, unser Denken, unser Alter, unsere Wut, unsere ganze Leidenschaft, der Blick auf die Kleinigkeiten, die das Große erst groß machen, der wartende Mann an der Haltestelle, der sich unbeobachtet fühlt, das streitsüchtige Pärchen, das seinen Überdruss an sich selbst nur noch schwer verbergen kann, die Laternen meiner Straße im Nieselregen."
Wir arbeiteten von nun an beide an dem Projekt, das der "Überzieher" heißen sollte, und heute kann ich von einem Glücksfall sprechen, denn unser Zusammentreffen erwies sich als enthusiastisch und voller Humor. Sebastian komponierte die fehlende Musik, ich lernte Texte wie ein Geistesabwesender, brubbelte vor mich hin wo ich stand oder ging, überall kleine Zettel in den Taschen, auch für mögliche Ideen, Schnellschüsse, welche ich mir hastig während der Pause einer laufenden Vorstellung mit einem Bleistift notierte.Ich schrieb Zwischentexte, welche wir wieder verwarfen, ich entwarf ein Bühnenbild, welches wir nicht gebrauchen konnten.Das schwierigste aber war, dass es auch noch andere wunderbare und große Rollen gab, welche ich zu dieser Zeit am Schauspielhaus spielte und probierte. Manchmal lief ich voller Sorge um mein Projekt durch die Straßen, denn immer wieder wurden wir von anderen Arbeiten unterbrochen.
So verbrachte ich meine Abende mit Saladin und Tellheim, meine Vormittage mit Stanley Gardner aus "Lügen haben junge Beine" und meine Nachmittage und Nächte mit Gesangsproben für den Überzieher."Du mußt es nicht übertreiben, nicht erzwingen, wenn nicht jetzt, dann später, keiner treibt dich, wo die Zeit fehlt, fängt der Zwang an, und der Zwang macht den Menschen krank!"In jeder Arbeit steht das Scheitern zuverlässig neben dir wie ein Schatten und wartet mit der Beharrlichkeit einer Katze vor dem Mauseloch nur darauf, dass du den Mut oder die Kraft verlierst und aufgibst.Wenn man aber eine Leidenschaft hat und einen guten Gedanken dazu, gibt es keinen wirklichen Grund, an irgendwen und irgendetwas zu zweifeln, denn auch der Zweifel macht uns krank, jenes allzu viele Abwägen, die zum gesellschaftlichen Phänomen gewordene Angst vor Fehlern macht uns leblos und langweilig, so dass wir am Ende im Nichtstun verharren.Ich hatte zu dieser Zeit Kraft für zehn und Zuversicht für hundert, denn die ersten Umrisse des Abends wurden sichtbar.
Am 22. Oktober 2002, nach insgesamt 2 Jahren Arbeit, hatte der "Überzieher" seine restlos ausverkaufte Premiere auf dem Theaterkahn. Einen Abend vorher sitze ich zu Hause, leblos vor Erschöpfung, vor dem Fernseher, gucke die Kulturtipps für den nächsten Tag und sehe mich angekündigt.
"Am Anfang war die Idee", denke ich ...
24.09.2003