12.2.12

Tolstois "Krieg und Frieden" - eine Betrachtung


Für die "Sächsische Zeitung Dresden" aufgeschrieben.

Keine Angst vor dicken Büchern! Man kann sie ja auch hören. So habe ich Tolstois „Krieg und Frieden“ in einer ungekürzten Ausgabe vom Audio Verlag, 54 CDs lang gehört. Dies entspricht etwa 67 Stunden. Ulrich Noethen als Sprecher ist mir lieb und teuer und im Tonfall fließender Eindringlichkeit erzählt er von den Jahren des napoleonischen Kriegs. Ein halbes Jahr lang habe ich mit dem Roman in meinem Arbeitszimmer die morgendliche Zeit verbracht. Jeden Tag ein bisschen. Und weil ich von Natur aus eher langsam bin liegt mir alles was lange dauert.

Es ist wie beim Laufen. Dein Körper verlangt bei einer Belastung eine Regel – so doof das klingt. Hat sich der Puls an die Belastung gewöhnt, sendet er dir Endorphinen und Serotonin . Das macht glücklich. Aber der Körper ist nicht blöd, denn er belohnt und unterstützt dich erst mit dieser körpereigenen „Droge“, wenn deine Füße eine Weile gerannt sind. Es scheint auch er, unser Körper, hat ein Herz für alles was andauert…



So gewöhnst du dich an den Roman, an das kalte Russland, an die Menschen, an den Krieg, und lernst so ganz nebenbei viele verschiedene Personen kennen. Keine Angst, man kann sich mehr merken, als man denkt, denn sie, die Romanfiguren, tauchen immer wieder auf und interessieren, beschäftigen, ärgern und überraschen dich. Du kannst dich ihnen nicht entziehen. Tolstoi reduziert die Hauptfiguren auf eine überschaubare Menge und so begleiten dich drei Familien über drei Generationen durch den Roman.


Der Eine z.B. heißt Pierre und ist in erster Linie ungeschickt, aber gutmütig und sehr idealistisch. Der Andere heißt Andrej und ist scharfsinnig, nüchtern, zweiflerisch und kompromisslos. Diese beiden Pole menschlichen Verhaltens bilden die Widersprüchlichkeit der Person Leo Tolstoi in sich selbst. Zwischen ihnen steht Natascha, der tägliche Sauerstoff zum Leben, gierig nach Glück, verschwenderisch in Liebe und Vertrauen. Dieses Dreigespann, ihre Beziehung zum Leben und zu sich selbst verändert sich vor deinen Augen in den Zeiten des Krieges, sie verlieren und verlieben sich, bereuen, verzeihen, aber vergessen nichts.

Nimm ein Mikado Spiel und wirf es vor dir aus, oder besser ein Kaleidoskop! Halte es gegen das Licht und alle Farben spielen miteinander, zeigen ihren eigenen Zusammenhang. Scheinbar zufällig liegen die Ereignisse vor dir und doch sind sie nur so möglich. Bewegst du das Kaleidoskop einen Millimeter, ist alles anders und genau nur so möglich. Die Folgerichtigkeit der Ereignisse ist frappierend. Tolstoi spielt mit den Figuren und verwandelt sie durch den Lauf der Ereignisse.

Die stärksten Momente des Buches sind für mich Tolstois philosophische Schlussfolgerungen über den Krieg. Warum kann er entstehen, wieso bleibt er und weshalb geht er. Was ist Frieden? Tolstoi beschreibt mit leichter Hand und klaren Bildern. Darüber hinaus legt er Wert auf die Beschreibung seiner Hauptfiguren. So empfinde ich die Beschreibung von Napoleon als einen sprachlicher Genuss und unbestrittenen Höhepunkt des Buches. Eindringlich und interessant auch der Brand von Moskau.


Die Seele des Buches bildet für mich die Begegnung Pierers mit dem Mitgefangenen Soldaten Platon Karatajew. Dieser kleine in sich gekehrte Mensch murmelt zu Pierre, während er mit einem Stock in der Asche scharrt: „Weißt du mein teurer Freund, mit dem Glück ist das so, wie mit dem fischen, spannst du das Netz zu straff, reißt dir der Faden, lässt du zu locker, schwimmt dir die Beute weg.“
Vertrauen sie sich Tolstoi an! Haben sie Geduld! Sie werden es nicht bereuen.


Herzlichst, ihr
Ahmad Mesgarha